Schlesingers letzter Kampf.

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Ich war ein Phantasiewert. Meinen Himmel versprach ich jedem, der bereit schien auf mich zu wetten. Einem Unteroffizier etwa, diszipliniert bis in den Schlamm, wie er sich lustig seine Zigarette ansteckte: „Warum nicht?“
Vor dem erloschenen Kamin hocke ich. Neben der Spielesammlung und den Buchspenden. Mein Diktiergerät gleicht dabei einem Kind, das mit offenem Mund Gespenster zeichnet.
Zum Kettenrasseln hier! Gegen meine Bleibe gleicht jedes Prosit, an das ich mich erinnere, einem Donnerwetter. Mein Krückstock lungert am Sessel herum. Gefertigt aus Niedergeschlagenem, das mal hoch am Himmel stand. Werk einer Axt im Garten Eden. Hingegen ich Abfall bin vom Baum des Lebens. Verdorben, ohne dass ein Fallbeil sich je an mir versuchte. Hinter mir lauert kein Wille. Ich bin nicht das Projekt überirdischer Heimwerker. Eher trat mir das Blut über die Ufer: Missgeschick meiner Natur, Toilettenfehler des Alltags, fruchtloser noch als jedes Plastikfigürchen einer Spielesammlung.
Das Personal feiert gerade Schichtwechsel. Bekittelte Außerirdische: von mir aus langt eine Minute im Personenkraftwagen bis mitten unter die Sterne, so gammlig fühlt meine Tiefe sich an. König eines verwitterten Wracks. Zu Grunde gehend unter schwerem Blasengang.
Ich beäuge das Diktiergerät, atme, atme, bin ganz Lebenszeichen. Es ändert nichts. Kein Kartenhaus, welches sich durch mein Gaffen und Giemen genötigt sieht in alle Richtungen auseinander zu fallen.
Die Mauern stehen, bleiben, wachsen neu und wieder neu.
Fünfundvierzig Jahre, und ich sehe in all dem Stein nicht einen Stich. Restlos abtragbar bin ich. Unwesentlich bis in den Kern. Eine Sabbelbude.
Niemals ergab ich Sinn. Ich belebte die Welt, ich besprang und beweinte sie. Ein Daseier, den selbst Kinderhände leichthin verscheuchten.
Ich greife zum Krückstock. Mein heiler Arm drückt das Ende des Krückstocks mit aller Macht auf den abfeudelbaren Flecken Welt, den ich seit Stunden bedenke. Und es verbleibt nicht ein Beweis von Kraft auf dem Linolium. Als hätte ich mich fünfundvierzig Jahre lang jeder Aussage verweigert.
Vielleicht sollte ich mich hochstemmen. Meine Runde durch den Aufenthaltsraum machen, die kleinen Abendtoiletten entlang Patrouille gehen, gar den Streifen Grün vor dem Pflegeheim beleben. So als zäher Daseier.
Eine Sportstunde aus Kindertagen kommt mir hoch, in der ich die meisten Runden rannte um den Teich. Am Ende hart von der Eitelkeit, sechs oder sieben Male im Kreis gelaufen zu sein: „Das kann er!“ hob sich der Daumen des Junge, neben dem jedes Mädchen sitzen wollte.
Sprinten und Weitspringen, ja! Ungern gedenke ich solch flinker Kindertage. Mit einem Halben von einem Körper ist nicht gut schwelgen. Der linke Arm schlaff, als wäre er mir angenäht. Das Bein darunter kaum besser. Über Nacht entzwei geschnittert alles. Was keineswegs heißen soll, dass mir anschließend nicht vollste Lebensfreude abverlangt wurde: Der Welt angemessen als ein Flicken, konnte ich mich schwer eingewöhnen in mein neues Maß. Das Pflegepersonal aber wurde dadurch nicht freundlicher. Ausgewachsene Vierbeiner, denen ich mit dem, was übrig blieb von mir, kaum zu begegnen wusste. Hätte ich wenigstens zappeln können nach der Mucke, die sie sich einführten, wenn das Schichtende nahte. Und klatschen konnte ich nur noch, wenn ich mit der Rechte auf meine Fußsohlen patschte. Nichts, worin Vierbeiner examiniert wurden. Also: Tür zu, Friedhof an!
“Warum ist die Banane krumm?“ ihre Sprachregelung, wann immer ich vorstellig wurde mit dem Tod.
Merke, entzweit darf man gerne sein, aber bitte als ein geklebter Weihnachtswichtel, der das Jahr über auf dem Boden lag: so bald jemandem nach Bescherung ist, muss einem der Wichtel im Gesicht sitzen. Ich blieb Totenmaske. Bleich, mit Spuren gewesenen Grinsens. Hin fastete ich auf das Knochenwerk, das aus meinem Sterbehause verbleiben sollte. Ja, soweit war ich schon als Schüler, wenn sich uns an Wandertagen Gruften auftaten. Totenschädel und Brustkörbe, welche dem Pestgevögele widerstanden hatten, und in ihrer Ewigkeit ruhten wie ein Hurra!
Meine Worte bedeuten ja keine Wings, an denen ich etwas zu knabbern hätte. Feuerfasten und Bitterdunkel gehen also in Ordnung. Im Fleische stehend bin ich dem Leben keine Sättigung. Herunter gebrochen auf mein Wort jedoch mag die Welt mich schlingen können. Ich reisse mich also in Buchstaben, zerfetze und versaate mich. Oder besser: ich versuche es, viertelstündchenweise. Bis dann wieder Feuerfasten und Bitterdunkelheit herrschen, und garnichts in Ordnung geht.
Wohl jede Körperöffnung müsste ich mir zuschütten für den Glauben, dass mit meinem Gewese noch etwas in Ordnung geht!
Wissen Sie eigentlich, wie Kunstlicht auf Linoleum brennt? Da wird einem die Seele schwarz vor Gefrierbrand. Selbst wenn man sich seine Faust vors Auge drückt findet sich bloß noch blaues Geklumpe, wo einst haufenweise Träume Schichtdienst taten.
Könnte ich wenigstens abrutschen auf dem Linoleum nach irgendwohin. In die schwarz wattierten Spalten kollabierender Kreisläufe etwa. Aber nein, alle Trostlosigkeit feilt sich so lange ihre Krallen, bis ich mittendrin anfange meinen eigenen Schwanz zu jagen. Ja, so bin ich der Hölle mundfein, als ein um sich kreisendes Elend, von jeder Hausmaus mit Abscheu beäugt.
Während Teufel also in Hinterzimmer locken, dort die Sache mit dem Leben zu klären, sind Engel wohl eine Verheißung von Dachgeschossen: das doppelt geflügelte Wohnzimmerfenster zur Chaussee etwa, unter dem mein Dasein begann. Sicher ward ich so verführt mir Miniaturen zu erwerben, die Engel mal als Ritter darstellten und mal als Revolverhelden. Auch Flugobjekte aus Puppenkisten beseelten mich in meinen Vorwärtsbewegungen. Eben weil es entlang der Chaussee nur lief mit der Schnauze voran, und zwar geschwind.
Auf die Fensterbank gestützt wie zur Andacht erlangte ich so ein Raumgefühl, das ich bald im Kindergarten mit Tritten verteidigte. Und dann auf ein Wort gebeten werden von ebensolchen Lüstlingen im Knirpsformat, dass man ein Messer sich borgen werde, mir den Bauch aufzuschlitzen! Das Messer sah ich nie, aber die bloße Rede davon ließ mich endlose Kindertage lang beben. Ja, so erfuhr ich mein erstes wahres Wort. Das Wort vom Messer.
Heimwärts ward ich so gewendet. Bei der Mutter mich zu bergen, danach hielt ich lange Ausschau am Zaun meines Kindergartens. Ein Zaungast des Lebens, wenn man so will, niemals mittendrin.
Die Weise, wie Mutter mir winkte von weither, wurde mein Bildnis des Lebens! Ihr Arm, der augenblicklich sich hisste, mal Ahoi signalisierte, mal Aloha, mir jedenfalls so war, als begänne alle Welt überhaupt erst dort, und nur dort: aus fünfundvierzig Jahren steigt mir nichts Vergleichbares auf, was mein Dasein je krönte!
Vom verrotteten Oberstübchen her erwarte ich so bloß noch eines, dass es mich mit seinem letzten Schlag Blut versinken lässt in Mutters Bild, wie sie von weither nach mir winkt.
Wäre ich zu jener Zeit gemischt worden unter Mündige, die bleiben konnten, wo sie wollten, ich hätte sie nicht beneidet. Auf welche Weise ließen sich grelle Freizeiten, in denen wir Mädchen nach ihren Höschen trachteten und uns mit Steinen blutig hieben, besser beenden, als durch den Segen einer Mutter? Da hatten wir Ausgeburten dann fertig. Unter Mutters Sonne fühlte niemand sich mehr ungezogen. Mutter bedeutete Absolution. Der Halt ihrer Hand ließ unsere Hand reifen zur Waffenfähigkeit. Die erste Räuberbraut. Dagegen konnten Geistliche später Panzer segnen, wie sie wollten.
Man stelle sich am Ende Mutters Bestürzung vor, als die anderen längst Wildwüchse waren, die leichthändig Böller und Kanonenschläge zündeten, während dem Sohn selbst das Pink der Wunderkerzen ins Gesicht schlug. Wohl glückte mir beizeiten ein Kraftwort, aber jene befreienden Affenlaute, mit denen alle Welt Herrschaft feierte, blieben mir fremd.
Während man also mit seinem Blut emsig Mutterboden düngte, verkam ich zur Plünne. Das Aufgetragene eignete ich, den Schlag von Vorgestern.
Meine Bronchien werden mir streng. Luft verschwendet das Leben nicht mehr an mich. Als wäre ich nie ums Wesentliche bemüht gewesen! Sag mal, Du Linoleumfresse, Du Neonskalpell, bin ich Ratsche genug, dass Dein Gedrossele Dir zum Vergnügen gereicht? Was bist Du für ein vertrottelter Aasräuber, mir Hagestolz nachzustellen, wo Du hundert Schleckermäulchen um ihren Sinn bringen könntest! Geh gefälligst und bereinige Deiner Herrschaft die Flure, die sich lohnen!
Rasend vor Ahnungen, was mir an Leben widerfahren sein könnte, breche ich herein über meine Kindertage: Abgetanes entwende ich dem Hirn aus seinen Hinterhöfen. Halden sind das, zerdepperte Laden voller Nichtsnutzigkeit. Bleichgesichter reißen mir auf am Rost der Vergangenheit. Jenes Getue mit unseren Kettcars, Fresspapier vorm Mund, die Taschen voller Murmeln. Als wären wir hohle Schalenfrüchte gewesen, welche auf dem sich drehenden Rund eines blaugewirkten Rummels mal nach da, mal nach dort rollten.
Abgesehen von der Pflicht klaffender Wunden, erinnere ich nichts, das mich überzeugt sein lässt vom Wirken einer Tatkraft. Bilder konnte ich blättern, ja, Miene zur Musik machen, natürlich, und Glotzen konnte ich wie ein Großer. Jedoch drang ich niemals durch das Kaugummi Kindheit. Ich blieb ein süßes Durchgekaue, ich blieb zum Ausspeien!
Was war das anderes in den Naherholungsgebieten, als der tausendste Tanz um Ruinen und Schrott? Neunhundertneunundneunzig Tänze davon nicht von mir. Höchstens tat ich mich hervor mit Plastik, wo ein längst verfaultes Görenwesen noch in Holz phantasierte.
Und selbstverständlich zog ich keine Schlüsse aus dem tiegelartigen Glühen, das gegen Schlafenszeit die Felder entlang über unsere Picknicke herzog, obwohl es mit weiten Mänteln Dunkelheit herbeiführte.
Das geschnittene Korn erinnere ich, Überlandleitungen, Satteltaschen, den Willen zum Erlebnis, wohl auch wie die Sonne im Sinken auf uns anlegte, aber keine Sekunde Todesmut. Eher hätten wir Glaubensbekenntnisse fahren lassen, als uns gegen das vom Horizont aus aufstiebende Schwarz zu wappnen.
Nun ächze ich hier vor Plunder. Ein punktloses Geknutsche hängt mir an. Selbst dem Tonbandgerät mag ich die blutschwangere Brühe Gemeinwesen nicht zumuten, mit der ich lederhäutiger Sack mich über Jahrzehnte abfüllte, und die mir nun aus allen Poren will.
Ginge es im Herzschlag des Lebens, wäre es hohe Zeit für eine Lanzette samt Abtritt. Aber was auf Erden ist schon entschlossen, was verschwiegen?
Oft hörte ich vom Leben als einen Fluss ohne Wiederkehr. Wenn dem so ist, trieb ich gewiss keine Wertschöpfung. Ich plantschte am Ufer meiner Zeit, tauchte während hoher Festtage in vorgeschriebenen Tiefen und ließ mich wohl auch unbemerkt einige Meter treiben ehe ich machte, dass ich zurückkam. Aber wenn dort von Urzeiten her oder von vergangenen Ufern etwas Sachdienliches an mir vorbei verflossen sein sollte: meine hatte Hände gewiss nicht danach gesucht! Zu besessen war ich durch die Lebensverdrängung, die ich Fleischeskraft verantwortete mit meinen Bocksprüngen von den Spitzen der Nahrungskette. Ausser Dreck gelangte durch meine Lust nichts zur Welt. Und nun verende ich in meinem Maß Zeitgeschehen. Tagesgeschäfte hinter mir, welche gewiss nicht übel gelangen. Dass ich mich jedoch aufmachen könnte ans Ufer, dort etwas von meinem Gewesenen Segel setzen zu lassen, würde einem Versuch gleichen Schatten in den Fluss zu werfen.
Wenig hilfreich dabei, dass es regelmäßig überall maximal für ein Reihengrab langt. Jene von Geburt an Befriedeten, welche getrost auch Christbäume hätten sein können oder Fliegenpilze: was war ich stolz auf meinen grünen Umhang und die rote Kappe, in welche Mutter weiße Punkte genäht hatte. Vermählt mit aller Welt vermochte ich so im Kindergarten zu knien als bloße Laune der Natur! Vielleicht sollte ich zum Pflegepersonal beten, mir für mein Sterbebett Ähnliches zu schneidern?
Die Form, gewiss macht die Form den Tod! Wüsste man sicher, wann einmal aufgezogene Dasein mit letztem Ruck stillstehen, viele würden sich wohl am Meer betten, oder sich wenigstens auf Wiesen bereit halten. Aber so im Pilzkostüm eigne ich mich wohl vorzüglich für den unentschlossenen Tod. Einen Tod, der nicht hinmacht, sondern der es genau nimmt mit seinem Handwerk. Hätte mich auch geärgert, hastig ausgebombt zu werden, eine Bein hier, die Arme ganz woanders. Mein Tod und ich, wir wissen schon, was wir aneinander haben.
Mit welch Sorgfalt mir seine schmutziggrünen Schimmelfinger Nerv um Nerv rauben und in jede Daseinsader Glibber stopfen! Beben würde ich unter meinem Tod, ließe er mir die Luft dazu. Aber nach Beifallsbekundungen stand ihm wohl nie der Sinn. Durchaus vorteilhaft in einer Welt, die sich erregt an Bildern von Schutzengeln: wache über meine große Morgentoilette!
Ja, welch Engel ich sei! segneten mich Tanten, als mein Fleisch noch mundete und ich die Arbeitskraft eines Elefanten verhieß. Spätestens jetzt aber mag ich hören, was für ein wundervoll anzusehender Tod ich sei! Derart empfohlen finde ich wohl sogleich Anstellung, wenn ich hinüber bin.
Vom jenseitigen Amt für Flurbereinigung möchte ich zum Tod einer Schönheitskönigin befördert werden. Kein fauler Tod will ich sein, welcher sie mal eben ins Messer eines verschmähten Verehrers steckt.
Scheu würde ich mich meiner Schönheitskönigin nähern. Nicht gleich ihr Herz beanspruchen, nein, in die Nieren dieses edlen Geschöpfes schleiche ich mich. Dass bloß an den Schienbeinen sich ein Ausschlag zeigt, von dem selbst der Hausarzt nicht ahnt, dass ich es bin.
Wie meine Schönheitskönigin mich dann mit irgendwelchen Cremes kost! Immer öfter unterbrochen von langen Blicken, wer wohl verantwortlich sei für diesen Streich? Und wie ich dann im Dunkel ihrer Nieren zittere vor Versuchung, entfacht über sie herzufallen. Aber dann ist da vielleicht schon die Schurwolle eines ihrer Liebhaber, dem seine Hose in die Kniekehlen gerutscht ist. Zu Anfang jedenfalls, bis ich für genug Flankenschmerz gesorgt habe, dass meine Schönheitskönigin es nicht mehr so gerne mit weltlichen Dienstleistern will.
Wann immer sie stattdessen ins Beten kommt werde ich flauschig im Rücken, und bin an den Schienbeinen auch viel weniger blühend.
Ah, jetzt haben sie mich entdeckt: „Wenn das mal nicht die Nierchen sind!“ verpfiff mich eine Krankenschwester.
Nun ist der Vorhang beiseite gerissen. Nackt, wild und frei stehe ich vor meiner Schönheitskönigin. Gerne hätte ich sie schlank im Schlaf mit mir genommen. Ihr Dasein auf den Punkt gebracht als ein gehauchtes: Huch! Wie sie dem Leben passierte, hätte ihr der Tod passieren sollen.
Umstellt von Ärzten nun eskaliert die Situation zur Geiselnahme. Es geht hart auf hart. In Kriegsbemalung stürze ich Strahlenkanonen und Giftspritzen entgegen: Unter Verwüstung von Nieren und Leber, mit Scharmützeln entlang der Speiseröhre, stehe ich endlich vor den Lungenflügeln meiner Schönheitskönigin. Flügel, die ich ruhig unter den Wonnen der Sonne erinnere. Nun aber zittern, zucken und beben ihre Flügel. Ein wild seine Fahne schwenkende Existenz. Und ich werde dabei nicht schwarz vor Lust, sondern vor Scham. Gerne würde ich so vorstellig werden in der Flurbereinigung, ob man dort die Praxis des Notwendigen kennt aus eigener Anschauung? Doch auch mein Mutwillen am Leib der Schönheitskönigin kommt mir übel: als wolle ich am Ende aller Weltenräume stählerne Festen angehen! Es ist nicht die Schuld der Schönheitskönigin, dass mir aus ihren Körperöffnungen kein Sternenhimmel erwuchs.
Der kümmerliche Rest, den es noch abzutöten gilt, mag eine Frage der Technik sein. Auch blind vor Pflicht und Scham bequem machbar. Es wäre aber alles nichts ohne die Anerkenntnis meines Wirkens. Die Genugtuung allen Ernstes wahrgenommen zu sein.
Als die Schönheitskönigin selbst an einem Tropf voll Morphin noch faselt vom Leben, fühle ich mich um meinen Segen gebracht. Derart geprellt will ich mir keine Nacht mehr mit meiner Schönheitskönigin schenken. Wütend breche ich auf in ihr Hinterstübchen, dort aus dem Erinnerungswust einer Schönheitskönigin das Filmchen zu schneiden, das sie zum Halali sehen soll. Ja, der Tod ist am Ende auch ein Showcutter.
Gegen drei Uhr früh begegnen wir uns. Wie zwei füreinander Geschaffene. Ich missmutig in ihrem Hinterstübchen, als ich aus dem Nichts zwei Augen spüre. Sie. In aller Form, in der sie einst gemeint worden ist, schaut die Schönheitskönigin mir zum Hinterstübchen rein. Unter zwei Sonnen kauere ich wie unter Glockenschlägen. Ein letztes Mal nimmt die Schönheitkönigin Gestalt an, und sie meint mich damit. Mich! Dann ist sie fort. Ausgezehrt und puppengleich nun auf dem Sterbebett. Im Vertrauen darauf, dass ich meinen Beitrag leiste. Und ich rausche durch ihre Erinnerungen wie hundert Frühlingsstürme! Bis in den Morgen schaffe ich an meinem Meisterwerk vom letzten Augenblick.
Ich warte, bis erste Sonnenstrahlen meine Schönheitskönigin segnen, dann starte ich den Film und sage: „Du!“
Eine letzte Welle Blut durchmisst ihren Leib. Aufgeregt wie zum Examen. Ihr Herz erhebt sich, verneigt sich nach allen Seiten. Ein letztes Zittern mit dem Taktstock, dann bricht sich das Morgenlicht in den herrlich geöffneten Augen meiner Schönheitskönigin…
Als ich mich voll frischer Erfahrungen aufmachen will, bald der Tod einer anderen Schönheitskönigin zu sein, finde ich mich wieder im Sessel eines Aufenthaltsraumes eines Pflegeheimes. Erwacht aus der Laune meines Todes. Oft lässt er mich so wegtreten. Wohl weil er unbebettelt sein Werk inspizieren will. Ums Leben gebrachtes Dasein. Als hänge in Ruinen noch irgendetwas mit Bewusstsein heilen Zeiten nach. Kinder wollen so etwas, in Abbrüchen Gespenster sehen, warum mein Tod nicht auch?

Ich bin mehr als die Worte, die mir glücken. Worte lassen mich nur zur Ader, Worte bedeuten höchstens eine Probe schöpferischer Urgewalt. Mag mit meinem Mundwerk nicht mehr viel los sein, meine Schreie sind so kräftig wie die eines Verdammten. Das Leben in seinem Wesen weiß mit unserem Wort wenig anzufangen, während jeder Schrei die Wälder hallen lässt.
Sollen sie da draußen Messenger bevölkern und Börsen aller Art, meine Verzweiflung wird den Erdball Richtung Himmelspforte dreschen! 
Niemand darf sich davon irreführen lassen, dass ich nirgends hinauslangte über die Sandkästen, in die ich gerahmt war: mochte ich ein Kindsein lang Matsch bespielt haben, mein Wesen ragte stets höher hinauf, als wir Menschen jemals wachsen: Himmel forderte ich, die sich bedeckt hielten wie Auftragsmörder. Heimtückisch genug, mich rücklings mit Blitz und Donner entzwei zu schlagen. Aberhunderte Tode, welche sich in den Himmeln verbargen!
Derart unters Messer befohlen sorgte ich für meine sieben Ameisen. Jede Ameise zäh wie ein Drachen, nein, zäher! Mit Sinnen, die weder verbrämt waren noch parfümiert. Während man im Himmel so anhielt bis zur Sinnflut, schaffte ich Blätter herbei und Gras. Zweige brach ich, faulen Sand zu befestigen. Nicht der Ameisen wegen, die konnten leicht ein Vielfaches dessen tragen, was mein Tuschkasten an Blut und Schwarz hergab, sondern um der Logik meiner Hände willen, dass ich im Rahmen eines Sandkastens jedes Donnerwetter überdauern würde! Steckte ich mich geduldig zwischen die Ameisen, würde sich jede Wand in durchbohrbaren Krümelkram verwandeln.
Wundert es da, dass ich selbst während meiner Blüte nicht zu unterscheiden war vom Lehm und vom Kompost? Jedem Leibchen, jeder Joppe, jedem Latschen war ein Ton Kehricht beigemengt, welcher sich weder abwaschen noch abtun ließ. Jahre, von denen nicht ein Lichtbild existiert. Bis mir mein Kehrichtsein zum Stolz erwuchs. Wäre ich von Geburt an Ameise, hätte das Leben mir bloß zwei Beinchen genommen, nicht aber mein Ameisenleben.
Drängte ich manchen Weg weit auch gen Himmel, ich war nie Teil jener Behauptung, dass Kehricht fliegen könne, wenn dies und wenn jenes. Mir ging das Als-ob ab. Ich konnte nicht so tun, ich musste schon machen. Mochten andere sich in den Wind werfen, ich wühlte und schabte. Natürlich, wenn man in Mauern Tunnel bohrt, herrschen dort Beklemmungen, welche nur mit Gleichmut zu lösen sind. Schwarz müssen einem da die Augen sein, ledern der Schlund. Ohnehin waren mir meine Ohren stets Abtritte, wo alles Leben sich entleeren konnte. Und nun, „auf Pflege“, gleiche ich wohl einem Aschenbecher: Sessel, Krückstock und überhaupt aus Ton, Loch im Schädel für die Kippen. Wenn jemand das zerstörerische Nichts unseres hochverehrten Glühens erleidet, dann ich. Und niemand naht sich mir, der mich in Liebesakten leeren könnte.
Ja, die Daseinshygiene leidet. Zum Neutrum degradiert, sind mir selbst meine Träume so trocken geworden, dass mir jeder Samen noch in seiner Blase verkümmert. Vielleicht lief es deswegen selten rund, weil ich mich nie als Revolver durchs Leben führte: der Finger am Abzug halbiert das Gedankenaufkommen, vermute ich. So blank gezogen wäre ich den verballerten Revolvern nun natürlich über, hätte die sich nicht aufs Beten verlegt. Tatsächlich genügt es zum Seelenfrieden wohl schon, wenn man rauchende Revolver schmückt mit späten Blumen.
Kehricht umgeben von Chorälen, wie hätte ich das einst ahnen können unter all jenen Faustrechtlern des Schulhofes, aus denen die kessesten Fortpflanzer erwuchsen. Nun also blitzen keck die Rosenkränze, mich Kehricht das Hallelujah zu lehren.
Ohnehin am Ende einer stillen Straße vom Spielbrett genommen, höre ich vor lauter Mitternacht seit Stunden keinen Personenkraftwagen mehr. Abgetrieben von Wogen rauschender Pferdestärken, ruhe ich in Wüsten sich ablagernder Zeit. Als wäre aus hunderten von tausenden Sanduhren jedes Körnchen hier zur Tür hineingeweht. Verschüttet vom Gleichmut zweier Zeiger: Der eine stattlich, aber so weitreichend wie der Wurf eines Affen, der andere dafür umso schneidender.
Reinstes Luftgetrete hier. Nirgends Treppenhäuser hoch zu was auch immer. Selbst noch als Vierbeiner fand ich in Jahrzehnten nichts Himmelreiches, was sich ernsthaft besteigen ließ.
Man hatte seine Frist, man hatte sein Hirn, aber es gab zu keinem Zeitpunkt etwas, das unbedingt bedacht werden musste. Besser hätte ich wohl Schrauben gedreht in Maschinen, die leicht jede Ewigkeit bewältigen konnten.
Jawohl, ich tüftelte aus Baukästen schon das eine oder andere Gefährt zusammen, ehe in mir massenhaft Grübellei anlangte. Aber wem nützt sein Fortkommen ohne Anlass? Zahnräder, die zwecklos sich bewegten, drehten mich mit jedem Reifejahr mehr gegen den Uhrzeigersinn. Selbst wenn ich was zur Hand hatte, das sich programmieren ließ: 37.531 Kilobytes ready!
Ich ahnte nicht die Stärke solcher Knechtschaft, dass Kilobyte für Kilobyte noch ready sein würden, wenn ich Herr längst Pampe war. Ein Sinnhafter. Mit eingeweichten Schriften an Pfähle gepappt, an denen sich grußlos Hunde ergingen. Hätte ich stattdessen meine bloßes Massesein akzeptiert, wer weiß? Die Welt hätte ich dann jedenfalls erfüllt.
Ich bedeutete einen Kindersegen, ich bedeutete irgendetwas mit „jung“, ehe das Leben von mir absah. Nicht binnen Tagesfrist, nein. Aber irgendwann wurde offensichtlich, dass ich meine Chance gehabt hatte. Als nähme ich jedem Gegenüber sein Augenlicht, so stumpf ward ich fortan inspiziert. 
Wie nun mit dem, was einer anhäufte, der ins Leere geht? Hoffnungslos ins Leere. Wo es keine Flugbahn nachzuvollziehen gibt, welche unser aller Leben betrifft, wenn nicht das Leben überhaupt: einen Volltreffer mitten in die Basics des Lebens.
Ja, ich hocke im Leeren! Anders hätte ich längst mein Ende gefunden: Als niederkommende Flammenzungen etwa wäre ich den Leuten durch ihre windigen Dasein gesiebt, dass sie außer sich wären vor Feuersbrunst. So aber bin ich stiller Abtrag, hinaus geschaufelt über die Scheibe Welt. Folgenlos und bar jeder Schwerkraft geistere ich weiter, immer weiter. Vom Leben bloß noch eine Wertvorstellung, die ich beseieseieseie. Meinen Phantasien abgespicktes Gespensterwesen. Wahrscheinlich bin ich längst gelöscht aus allen Zusammenhängen, und mein Nennname hunderttausend Kindersegen weit neu vergeben.
Für Augenblicke ist mir, als wäre selbst mein Schatten fort, als sei ich meiner Folgenlosigkeit angemessen worden. Ein zweidimensionaler Verschnitt, wo vorne Essen draufsteht, und hinten Schlafen.
Viele gibt es, die machen ihre Hände so, dass ein Vogel wird aus ihrem Schatten oder ein Zugochse. Kampfmoralisten, denen an der Entschlossenheit ihrer Waffenbrüder gelegen ist: Gemeinsam lachen, gemeinsam lynchen.
Ich hatte meine Vorstellungen, ja, und die bedeuteten kein herzhaftes Schattentheater. Meine Vorstellungen waren schon so, dass sie mich der Welt enthoben. Ich musste mir nicht fortwährend ins Bein schiessen, damit überhaupt etwas passierte. Jene Erscheinungen emsigsten Blutflusses; plötzliche Entleerungen, welche schäumten nach dem Revolver: heimisch genug war ich in meinen Vorstellungen, dass ich mich des Zechens von Körpersäften enthalten konnte.
Auch hatte ich wohl ein Bild von mir als krumm gekauerten Schädelspalter, dem alles Dasein versunken ist. Allein die Ameisen blieben aus, mit denen ich die Welt außer mir hätte beflüstern können.
Ich wollte es treiben wie ein Kraut, bedachte aber nicht das Ausmaß meines öden Grundes, dass dort selbst bei Ameisen keine sonderliche Lust keimen würde: Warum sollten sie auf sich nehmen, was bereits in seiner Muttererde nicht wucherte?
Mein Wesen, das mir einst ohne sonderliche Umstände ins Gewächs fuhr, es findet nun keinen Weg mehr hinaus.
Ich bin nicht länger, was ich bin. Der wilde Trieb, der jedem Blitz die Stirn bieten mag, er ist seinem Strohkopf bis ins Tiefste eingewachsen. Verweichtes Stroh, selbst für Ohnmachten nicht geschaffen. Jedes Langen nach noch so trüben Lichtern nun macht meinem Verwesen energischer den Prozess, bis ich Funken vollends Klumpen bin.
Natürlich, kein Bürgersteig schlägt aus vor Gewesenem. Bestenfalls bleiben Spuren des Urschlammes, von dem man glaubte, dass niemand daran vorbei könne. Würde ich mich jetzt aufmachen menschenleere Straßen zu bedenken, ich könnte mich achten als das Erste und das Letzte allen Daseins. Ein beschwerter Überlebensmeister.
Mag mich jeder niederschlagen, der einen Hocker Dasein besitzt, ich greife ihm durch seine Tage wie durch Heißluft.
Aber was wärmt es, dass ich ödem Gekrabbel vorstehe? Gewiss bestaunen mir zu Füßen tausende Pantoffeltierchen mich Hünen von einem Pflegefall. So bin ich bloß Erster im Feuer und allergrößtes Häuflein Asche.
Kein Wimmeln von Worten, das sich für mich wühlt durch Aschehalden in den Morgen hinein. Keine Uhrwerke aus Buchstaben, die mir ferne Stunden schlagen.
Ausrupfen wird man mich, offenlegen meine Adern, welch schmutziges Werk Erde sie am Ende bedeuteten. Tristes Gesöff vergangener Kraft. 
Ich finde den Ansatz nicht, finde und finde ihn nicht! Mag ich keinen Punkt mehr ausmachen für alles Gewese, es muss mein Grund wenigstens Begründung sein! Ein sich in Weltenräume drängender Rammbock Leben, dessen schillernde Schuppe ich bedeutete.
Ja, meine Räume waren mein Befehl ins Dasein. Sie abzufüllen als ein Gesandter unserer Schöpfung. Dabei nahm ich mir keine klingenden Paläste vor, sondern Butzen irgendwo zwischen Mittelmaß und Sarg. Ruinen besuchte ich, Außenklos. Alles, was den Tag forderte.
So ließ ich mir Schatten beigeben, den Schatten zu erhellen mit Gelichter unserer Zeit. Stumpf aber blieben selbst jene lodernden Versprechen, welche ich dem Kino und dem Plattenspieler entnahm, stumpf gegen Schatten, die wie Teer auf mir lasteten. Dahinter Hunde, deren Mäuler Bärenfallen bedeuteten. Fetzen wollte das Schattenrund mich, rädern und reißen. Weil unsere Zeit bloß geschlossenen Auges bestehen konnte gegen solch Schattenballen. Während ich unfähig war zur Flucht in die Verheißungen der Blindheit.
Mir mangelte nicht an Dasein, mir mangelte an Boden und an Licht. So bedarf es zum Sieg Unmengen Irrsinniger, welche in ihrer Flut keinem Schatten auch nur einen Fußbreit Sicht zugestehen. Spukschlösser werden derart zu Spaßbädern, wenn sie bis unter die Zinnen vollgeramscht sind mit Blindwütigen. Da winseln selbst Höllenhunde vor Luftnot.
Was blieb mir also zu erfüllen? Was bleibt jeder verdammten Schabe zu erfüllen? Könnte ich mich nur winden! Aber es bieten selbst Alpträume sich nicht an. Kein drohender Bolzenschuss, erst recht für den Kolben bin ich Narr zu schade. Verenden soll ich, zerbröseln und verschlammen…

Pflegekräfte inspizieren die Reihen. Mäuler zählen für Späthappen Brotkonfekt. Ich werde mich einreihen auf etwas Teewurst mit Senf. Und was bleibt anschließend mehr, als der Schlaf?
Irgendwo im Hasten meiner Jahrzehnte hätte ich aus dem Stand anschlagen müssen. Vielleicht um eines Stückes Zinn wegen oder aufgrund von Schnitzereien. Mir alles Dasein abreißen, bis bloß noch Brust und Keule mich bedeuteten, und dann gezuckten Herzens mittenrein. Wie ein Werkstück vorgenommen sein, registriert und sortiert, ach, irgendwas. Aber fortgekehrt. Blanken Boden hinter mir, von Drachen benebelte Schotterpisten vor mir, Meter für Meter Höchstgeschwindigkeit. Was weiß ich. Nein, wenn das ein Ende bedeutet: es ist nicht schlimm um mich, war es nie!
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look at me!

Matrix.

Unheimlich, wie viele Menschen ihr Leben lang nicht hinaus kommen über das Schreiben von Urlaubspostkarten. Vielleicht reicht es der Welt tatsächlich zum Glück, wenn sie täglich ihre vier Stunden Glotze reingeschüttet bekommt. Die in die Hunderttausende gehende Gemeinschaft der Online-Gamer beweist mir, dass Menschen real mit einem tristen Viereck zufrieden sein können, wenn sie dafür virtuell Könige sein dürfen. Insofern ist "Matrix" für mich der visionärste Film des 21. Jahrhunderts. Und ich gäbe manches dafür, später der weiß gekleidete Architekt der Matrix zu sein. Und sei es in der Irrenanstalt. Wie Nietzsche. Ein Irrer, der alles weiß, der das Leben in seiner Tiefe durchmessen hat, bis es tiefer nicht mehr geht.

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