Ein Brasilianer hat mich auf Droge gebracht.
Für den Brasilianer musste es Mittag gewesen sein, vielleicht schon Nachmittag. Für mich war es früher Morgen, kurz nach zwei, um halbwegs genau zu sein. Und eigentlich wollte ich als "Guest" vor dem Schlafengehen nur ein Spiel weit kucken, wie mein neuer DSL-Anschluss sich bewährte im Internetschach. Von wegen Fortschritt der Technik und so.
"Wollen Sie noch eine Partie spielen?" mailte der Brasilianer mir über den Ozean hinweg.
"Ja", klickte ich, da es unhöflich ist, dem Verlierer keine Revanche zu gewähren.
Schon standen die Schachfiguren aufgebaut vor mir, meine fünf Minuten Bedenkzeit für die gesamte Partie begannen von Neuem abzulaufen. Ich eröffnete mit dem Königsbauern, der Brasilianer griff mich im Gegenzug an wie Frank James Marshall 1918 den späteren Weltmeister Jose Raul Capablanca. Doch meine Defense hielt stand. Kurz darauf konterte ich den Brasilianer aus: wieder gewonnen, 2 zu 0.
"Wollen Sie noch eine Partie spielen?"
Irgendwie hatte es da bereits KLICK gemacht in mir. "Ich spiele weiter, bis er genug hat", rief ich hinüber ins Schlafzimmer.
Der Brasilianer hatte lange nicht genug. Zwölf Partien gewann ich, zwei endeten Unentschieden, ehe der Server von www.schach.de mir meldete: "Gegner hat Partiefenster geschlossen."
Ich hingegen machte meins gerade erst so richtig auf: 1319 Partien habe ich gespielt seit jenem Morgen, meinen Nick "rkey31" hochgepeitscht in die Spitzengruppe der regelmäßig rund zweitausend Schachspieler im virtuellen Turniersaal.
Noch immer aber ist es nicht genug mit meinem volkswirtschaftlich sinnlosen Treiben: "Was für andere das Saufen, ist für mich das Schach!"
Schach ist wohl meine Sehnsucht nach dem Peter Pan in mir, nach dem Himmelreich, das nur den Kindern gehört, und das sich uns später verschließt wie ein Garten Eden:
"Aber Peter, Du wolltest doch niemals erwachsen werden."
Schach ist Kindheit für mich: wann immer mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, spielten wir eine Partie.
Wie ehrlos nun ist die Sucht eines Mannes nach seiner Kindheit? Nach dieser Welt in der Welt, die so begrenzt ist, doch gerade deswegen so frei. Tag und Nacht auf 64 Feldern, mit einem Blick zu überschauen: "Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein", nur die Logik von Kraft, Zeit und Raum herrscht auf dem Schachbrett.
Ein Königreich der Ersatzbefriedigung also, das umso aktueller wird, je mehr wir große und kleine Räder sind, ohne Hoffnung auf eine Tat, die ihren Namen verdient.
Sucht, das ist die Unmöglichkeit der Tat.