Mittwoch, 31. Mai 2006

Tief ist die Welt. Tiefer, als der Tag gedacht.

Tief-ist-die-Welt

Dienstag, 30. Mai 2006

Ein Leben, 649 Zeichen lang (ohne Leerzeichen).

Mit 15 küsst Laura ihn zum ersten Male. Noch vor dem Abitur wird sie schwanger. „Wir schaffen das“, sagt er. Laura schreibt es in ihr Tagebuch, malt ein Herz daneben. 3. Stock, zweite Tür links. Er wird Prokurist, Laura zum zweiten Male schwanger. Laura weiß nicht mehr, wo sie ihr Tagebuch gelassen hat. Eines Nachts kommt er nicht mehr nach Hause. „Was kann ich dafür, dass ich mich verliebe?“ sagt er am Telefon. Den Kindern schreibt er von Teneriffa aus: „Mama hat immer so viel Streit gemacht mit Papa.“ Laura gibt eine Kontaktanzeige auf. „Das dann doch nicht“, sagt der Mann mit der Rose in der Hand. Die Rose darf Laura behalten. Laura findet ein Tagebuch ihrer Tochter: „Ich halt es nicht mehr aus!“ steht da. Laura hofft, dass ihre Tochter das Abitur noch macht. Wenigstens.

Montag, 29. Mai 2006

Vater.

Vater

Seine Hand ruht in seines Vaters Hand,
Will nicht greifen nach Tempel und Schwert:
Ist ´s meiner Krippe Rand,
Hinter dem die Sünde währt?

Sterne erkennt er keine.
Ein Esel führt seinen Blick,
Führt ihn nieder auf wacklige Gebeine.
Vater, sag ´s mir, ist Liebe Dein Geschick?

Da erkennt er seines Vaters Augen,
Erkennt noch im letzten Galgenstrick die Himmelsmacht:
Keine Sterne sind ´s, ´s ist der Glauben.
Vater, so will ich denn geboren sein in die Nacht.

Sonntag, 28. Mai 2006

"Und von den Städten wird bleiben..."

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"…der durch sie hindurchging, der Wind." Brecht.

Eine Neubausiedlung in den Weiten Schleswig-Holsteins. Sackgassen, Gartenhäuschen, Eigentümer, die in ihrer Einfahrt stehen und kucken, Gewissheit, dass es kein Entrinnen gibt, nur einen Job, den es zu erledigen gilt.
„Der Nudelsalat ist gut“, sage ich in Echtzeit. Kein ironisches neben-mir-stehen mehr: wie eine Schildkröte schnappe ich nach dem Grillfleisch, luge aus schwarzen Äuglein hinaus in den Vorgarten. Das Ich hat einem allmächtigen Erzähler Platz gemacht, der es in seinen Händen wiegt, und abwägt, ob er es noch einmal zurück stupst in die Handlung.
Szenen, an die ich mich später nicht mehr werde entsinnen können. Ein Nebel, der das Lebende vom Toten scheidet. Vielleicht schlafe ich schon, träume diesen Text, derweil mein Rechner längst abgedeckt ist und zur Abholung bereit steht?
Immerhin: der Nudelsalat war wirklich gut.

Samstag, 27. Mai 2006

Fröhlich bis zur Pleite.

Lagen zu meiner Jugendzeit noch Briefe im Kasten von „someone, who loves you“, 100% zukunftsfrei, geht jetzt die Rede von Hunderten von Euro, die ich mir sparen könne, wenn ich Geld ausgebe.
Eigentlich erkundigt sich in unserer Gesellschaft niemand so oft nach unseren Wünschen, wie das örtliche Kreditinstitut. Was erwartest Du vom Leben, wo siehst Du Dich in zehn Jahren? sind keine Fragen des Smalltalks.
Stattdessen werden Erinnerungen in Sicherheit gebracht, die uns, wir wissen es alle, ja keiner mehr nehmen kann.
Was liegt da näher, als mit freundlicher Unterstützung eines Kredites Marke „easy to go“ schnell zu leben und jung zu sterben?
Hatten wir vorher kein Ziel, haben wir nun zumindest ein Zahlungsziel. Wie die Maus bei Kafka, wo die Gänge enger und enger werden.
Meine Zukunft klein schneiden für einen Flachbildschirm, eine Küche, eine Urlaubsreise?
Vergangenheit empfinde ich als abgestandenen Fusel. Wer ´s mag.

Es werde Licht.

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Freitag, 26. Mai 2006

Ein Kopfbügelmikrofon, aber billig.

„Wir haben hier nur die Profigeräte“, beschied mich der Profi aus dem Klanghaus. Ich hatte nur ein digitales Diktiergerät, das ich optimieren wollte für eine Software, die Gesprochenes wandelt in getippten Text. Die andern hatten gar nichts.
Besaufen und dann Karaoke? Da unterstützt der Einzelhandel uns mit Regalen voll Mikrofonen. Doch wo bleibt der Spinner ab, der sich nachts am Strand flüsternd seinen Kopf machen will?
Soll im Versand bestellen, kann er sich gleich noch eine Gummipuppe mit ins Paket legen lassen, hahaha.
Vielleicht ist es tatsächlich so, dass Waren uns mitunter mehr bestimmen, als wir die Waren. Warum fiebern wir der Weltmeisterschaft im Fußball entgegen, warum die Amerikaner dem Super Bowl? Weil das Angebot eher dagewesen ist, als die Nachfrage. Sitte, Ritual, Tabu, und dann erst kommt der neugeborene Mensch.
Aber nicht mit mir, mit mir nicht. Wie der Vormensch in „2001: Odyssee im Weltraum“ erkennt, dass herum liegende Knochen mehr sein können, als die Folklore der Wildnis, weiß ich nun, dass Kopfbügelmikrofone mehr sein können, als der „Eurovision Song Contest“.

10 zu 2...

…gewann ich heute beim Backgammon.
Dabei kam die Frage auf, wie deutlich man seine Kinder verlieren lassen darf?

Kindheitserinnerungen dazu: Fast jeden Abend, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, spielten wir eine Partie Schach. „Oh, jetzt hat der Christian den Papa matt gesetzt“, ließ mein Vater mich immer siegen, bis ich mich bei meiner Mutter über dieses Verarscht werden beklagte. Daraufhin verlor ich nur noch. Partie um Partie endete in bitteren Tränen: „Papa hat mich geschlagen.“
Doch die Niederlagen beflügelten mich auch. Umsichtiger wurde ich in meinen Zügen, besser. Nach Jahren endlich gewann ich den ersten Wettkampf gegen meinen Vater. 50 DM schenkte er mir dafür. Viel Geld für mich 11jährigen. Niederlagen lohnen sich! war meine Lehre.
Kurz darauf trat ich einem Schachverein bei, wurde so stark, dass ich bald nach Belieben und ohne Ansicht des Schachbrettes „blind“ gegen meinen Vater gewinnen konnte…

Niederlagen sind mein Weg gewesen, sie sind es noch. Und ich will mich nicht scheuen, auch Kinder auf diese Weise wachsen zu lassen.

Auf den Affen gekommen.

twoday

Donnerstag, 25. Mai 2006

Kein Werkzeug Gottes?

„Sie verwandte unendliche Mühe und Ungeduld auf ihre Artikel, anfangs zwei Tage, später zwei Tage und zwei Nächte, in denen sie durchrauchte und durchtrank, noch später Wochen, Monate… Eigentlich jedes Mal drohte sie beim Schreiben zu scheitern. Sie geriet auf der ersten Seite in eine schwere Krise… beim ersten Satz, bei dem besonders. Wie fängt man an? Dann erst die zweiten Sätze! Und die dritten! Ganz zu schweigen vom vierten Satz. So ging die Nacht vorbei, so graute der Morgen…“, beschreibt Hellmuth Karasek eine preisgekrönte Reporterin.

Nacht um Nacht habe ich der Kunst nun geopfert, immer noch schafft Georges Simenon es um vieles eleganter, seine Mordopfer "by the way" zu charakterisieren. Vermag Fleiß da überhaupt etwas auszurichten?
Simenon hat als gelernter Heftromaner die Fälle von Kommissar Maigret meist in Wochenfrist zu Papier gebracht, brauchte Minuten für Absätze, wie sie mir selbst in Stunden nicht gelingen. Ein Genie eben.

Für einen Krimi im Drehständer wird es schon reichen, da habe ich keine Sorge. Dennoch treibt es mich um, aller Wahrscheinlichkeit nach nur berufen, nicht aber auserwählt zu sein.
Finanzielle Aspekte spielen dabei kaum eine Rolle, vielmehr die Gewissheit, sterben zu müssen: Kein Tagebuch von mir wird je unter Panzerglas auf dem Altar einer Kirche liegen wie das von Thomas Mann, kein Kinofilm über mich gedreht werden like "Capote". Für die Müllsäcke des Hausstandauflösers zu leben, das erfordert einiges an Gewöhnung, finde ich.

Und jetzt bin ich wieder hier. Meine Scholle Blogland hilft mir nicht ins Ewige Leben, doch der eine oder andere Kanten Literatur wird mich nähren, glaube ich.
Mein Vater sagt, ein Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels habe sich über eines meiner Gedichte sehr beeindruckt gezeigt. „Hast Du das auch wirklich geschrieben?“
Hab ich.

Mittwoch, 21. Dezember 2005

Ende des Weblogs.

Das Internet, ein Segen für jeden Schriftsteller! So empfand ich es lange Jahre. Mittlerweile jedoch bin ich unsicher, ob das Internet wirklich ein Geschenk des Himmels ist.
Im täglichen Klein-Klein die große Geschichte dahinter aus den Augen zu verlieren, das ist die Gefahr.
Budenzauber in Augenhöhe der Bergpredigt gelingt jedem versierten Entertainer. Erst ein stiller Evangelist aber vermag daraus Großartiges zu schaffen.
Zudem muss ich der "Computer-Bild" Recht geben: für die breite Masse sind Blogs out. Seit dem Ende von 20six möchte ich gar nicht mehr wissen, wen meine Statistik da alles gecountet hat.
Gerade Männer glauben ja, ihrem Partyaufruf via Radio würden nur hübsche Blondinen Folge leisten, und sind dann ehrlich erstaunt, wenn stattdessen Skins mit Baseballschlägern den Laden auseinander nehmen.
Die Lösung solcher mit der Öffentlichkeit verbundenen Probleme bereitet regelmäßig einen unverhältnismäßigen Aufwand, den zu treiben ich in meiner Freizeit nicht gewillt bin.
Lieber arbeite ich 2006 Tag für Tag weiter an meinem Meisterwerk.
Damit am Ende über Hunderte Seiten hinweg jedes Wort seinen Platz, seine Bestimmung in Ewigkeit gefunden hat.
"Sie befreite ihren Geist von allen Gedanken an sich selber, an die Kinder, von allem Zorn, aller Auflehnung, allen Problemen. Und dann betete sie mit dem tiefen, heißen Wunsch, zu glauben, gehört zu werden, wie sie es seit dem Mord an Carlo Rizzi jeden Tag getan hatte - betete für die Seele von Michael Corleone."

Sonntag, 18. Dezember 2005

It´s a Sin.

Einen Beichtstuhl haben Studenten aufgestellt mitten in einem Einkaufszentrum von Rotterdam. "Konsumsünden" sollen dort gebeichtet werden.
In der Tat ist es bei der heute herrschenden Grundversorgung schwierig, sich "Gadgets" nicht doppelt und dreifach zu kaufen. Unmöglich fast, sich in unserer Gesellschaft mal überhaupt nichts zu kaufen. Etwas anderes als Konsum findet selten statt im Herzen unserer Städte.
Was mache ich denn, wenn ich noch etwas Zeit habe und es kalt ist draußen? In eines der Stores kehre ich ein, natürlich. Besitz glotzen.
Menschen würde ich viel lieber kennen lernen. Doch an solch neuen Horizonten hat selbst das www. nur eingeschränktes Interesse: Bist du Single, willst du flirten? Nein? Dann zisch ab, Freunde habe ich schon genug.
Besitz offenbar noch nicht.
In einer armen Welt leben wir, obwohl sie uns so reich erscheint. Hübsch geschmückte Gulaschkanonen überall, wenn wir nur bereit sind unsere Augen aufzutun.
Lieber lassen wir uns den Fraß auf den Teller klatschen, der sich "Event" nennt, als mit etwas Mut die nächste Ausfahrt zu nehmen, hin zu uns selbst.
"Die Mauer schweigt still, im Wind klirren die Fahnen." Hier sterben Menschen, hier werden sie neu geboren.

Let it snow, let it snow, let it snow.

snow

Samstag, 17. Dezember 2005

Meine Kündigung.

Liebe 20sixler!

So fühlt es sich wohl an, wenn das "Hotel Mama" nicht mehr funktioniert wie früher. Niemand mehr, der sich kümmert um unsere Wäsche, niemand mehr, der den Kühlschrank füllt.
Natürlich, wir haben immer artig "Danke!" gesagt, und zum Muttertag gab es selbstverständlich Blumen.
Doch nun ist Mama etwas nachlässig geworden zu uns, hat die Ansicht gewonnen, wir könnten langsam mal auf eigenen HTML-Beinen stehen.
Gewiss, Mamas Entschluss kam etwas plötzlich. Vielleicht hat sie sich geärgert über uns, vielleicht will sie einfach nur etwas mehr Freiraum, vielleicht will Mama gar mit einem jungen Liebhaber um die Häuser ziehen… Ihre Entscheidung, ihr Leben ist es.
Und wer wäre ich, würde ich meine Blogmutter jetzt erinnern an ihre gesetzliche Pflicht? Mein Restguthaben kann 20six gerne behalten.
Löscht bitte, was von mir nach dem Löschen meines Blogs noch übrig sein mag auf 20six, und fertig.
Dankbar bin ich Euch für all die Erfahrungen, die ich machen durfte auf 20six.
Gerade mir Bühnenmenschen ist es wichtig, im Kleinen zu spüren, was später tausendfach über mich herein brechen mag.
Genau wie John Lennon werde ich es mir nicht aussuchen können, wer da im Dunkeln zuschaut, wer da anfängt Zeitungsausschnitte über mich zu sammeln.
Ob ich das will, ob ich das wirklich will, dabei hat 20six mir geholfen.

Alles Gute für die Zukunft!

Samstag, 10. Dezember 2005

Sterbehilfe, aktiv.

sterbehilfe

Thanatos und Ker. Alte Räume, die sich unserer Gesellschaft neu erschließen. Und wir alle wissen ungefähr, was es dort zu sehen gibt.
Gleich dem Dichter Menandros bewege ich mich zur Türe hinein, stets ein Bild japanischer Kamikazeflieger bei mir, wie sie grimmig stehen mit Schriftzeichen auf der Stirn und ihrem Land Ehre bereiten wollen. Shimpū Tokkōtai!
Ein "Tag des höchsten Geleits", für den Oma sich das Kleid ausgesucht hat, wie einst zur Hochzeit.
"Time to say Goodbye" ertönt, um Oma herum erhebt sich die Verwandtschaft: leinenes Tuch gleitet vom Schierlingsbecher - alles blickt auf Oma, wie der älteste Sohn zur Rechten Oma behilflich ist beim Leeren des Bechers.
Die Musik wird lauter gedreht, einige Verwandte summen mit, fassen Oma noch einmal bei der Hand, während der älteste Sohn zur Rechten einen rituellen Text aufsagt: "Gebenedeit sind wir, die Früchte Deines Leibes, sprich nur ein Wort, so wird unsere Seele gesund."

Irrsinn, wie er plötzlich Normalität ist, behördlich geregelt und in weiße Tücher verhüllt, daran messe ich den Wert des Menschengeschlechtes für mein Handeln hier auf dieser Welt: ob ich Platz nehme im hell erleuchteten Ballsaal oder mich losreiße und allein den Sternen folge.

Der Tod in Venedig.

Novelle von Thomas Mann.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005
ISBN 3-10-048514-9

„Wahrhaftig, erwarteten mich nicht Meer und Strand, ich bliebe hier, solange Du bleibst!“
Auf Thomas Mann hat immer etwas gewartet. „Der Tod in Venedig“ jedoch erscheint mir als seine Vorstellung der Ereignisse, wenn er, Thomas Mann, geblieben wäre: Bei Hans Hansen, bei Tadzio, bei Franz Westermeier. Etwa so, wie in unserer Zeit halbwegs geschiedene Väter durch Kneipen hecheln und Teenager abknutschen.
Der stets schlanke, asketische Thomas Mann, in seinem Tod in Venedig lässt er den Bock fett werden. Und er beweist selbst in seinem Fraße noch mehr Geist als der ungemeine bundesdeutsche Bock, der tatsächlich glaubt, im Leben gäbe es etwas kostenlos, „just for fun“.
Doch wie der Gefallene sich nur am Schmutze noch erfreuen kann, empfindet auch Manns Bock bald „eine dunkle Zufriedenheit über die obrigkeitlich bemäntelten Vorgänge in den schmutzigen Gäßchen Venedigs.“
An die Wand geschrieben in einer Zeit, die Immunschwäche noch lange nicht so kannte wie wir heute. Bei Thomas Mann sorgt die indische Cholera für das Finale.
Und nein, einem Thomas Mann braucht keiner kommen mit „Düsseldorfer Tabellen“: Der zu Fleisch gewordene Gott stottert nicht ab, er begleicht seine Zeche mit leichter Hand.
„Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zu Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.“

Sucht.

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Ein Brasilianer hat mich auf Droge gebracht.
Für den Brasilianer musste es Mittag gewesen sein, vielleicht schon Nachmittag. Für mich war es früher Morgen, kurz nach zwei, um halbwegs genau zu sein. Und eigentlich wollte ich als "Guest" vor dem Schlafengehen nur ein Spiel weit kucken, wie mein neuer DSL-Anschluss sich bewährte im Internetschach. Von wegen Fortschritt der Technik und so.
"Wollen Sie noch eine Partie spielen?" mailte der Brasilianer mir über den Ozean hinweg.
"Ja", klickte ich, da es unhöflich ist, dem Verlierer keine Revanche zu gewähren.
Schon standen die Schachfiguren aufgebaut vor mir, meine fünf Minuten Bedenkzeit für die gesamte Partie begannen von Neuem abzulaufen. Ich eröffnete mit dem Königsbauern, der Brasilianer griff mich im Gegenzug an wie Frank James Marshall 1918 den späteren Weltmeister Jose Raul Capablanca. Doch meine Defense hielt stand. Kurz darauf konterte ich den Brasilianer aus: wieder gewonnen, 2 zu 0.
"Wollen Sie noch eine Partie spielen?"
Irgendwie hatte es da bereits KLICK gemacht in mir. "Ich spiele weiter, bis er genug hat", rief ich hinüber ins Schlafzimmer.
Der Brasilianer hatte lange nicht genug. Zwölf Partien gewann ich, zwei endeten Unentschieden, ehe der Server von www.schach.de mir meldete: "Gegner hat Partiefenster geschlossen."
Ich hingegen machte meins gerade erst so richtig auf: 1319 Partien habe ich gespielt seit jenem Morgen, meinen Nick "rkey31" hochgepeitscht in die Spitzengruppe der regelmäßig rund zweitausend Schachspieler im virtuellen Turniersaal.
Noch immer aber ist es nicht genug mit meinem volkswirtschaftlich sinnlosen Treiben: "Was für andere das Saufen, ist für mich das Schach!"
Schach ist wohl meine Sehnsucht nach dem Peter Pan in mir, nach dem Himmelreich, das nur den Kindern gehört, und das sich uns später verschließt wie ein Garten Eden:
"Aber Peter, Du wolltest doch niemals erwachsen werden."
Schach ist Kindheit für mich: wann immer mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, spielten wir eine Partie.
Wie ehrlos nun ist die Sucht eines Mannes nach seiner Kindheit? Nach dieser Welt in der Welt, die so begrenzt ist, doch gerade deswegen so frei. Tag und Nacht auf 64 Feldern, mit einem Blick zu überschauen: "Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein", nur die Logik von Kraft, Zeit und Raum herrscht auf dem Schachbrett.
Ein Königreich der Ersatzbefriedigung also, das umso aktueller wird, je mehr wir große und kleine Räder sind, ohne Hoffnung auf eine Tat, die ihren Namen verdient.

Sucht, das ist die Unmöglichkeit der Tat.

Tanz der Vampire.

Musical in der Neue Flora Hamburg.

Regie: Roman Polanski.
Musik: Jim Steinman.
Text: Michael Kunze.

Jim Steinman. Ein Konzert von Bonnie Tyler erinnere ich. Sommer 2001 in der Burg hoch auf dem Honberg. Da hörte ich den Namen Jim Steinman zum ersten Mal. Als Bonnie uns erzählte, was alles sie Jim Steinman verdankt. Dann sang Bonnie Tyler ihren wohl größten Hit, komponiert von Jim Steinman: „Total Eclypse Of The Heart.“
Derart gestimmt nun wirft Graf Krolock seinen Schatten überlebensgroß auf den Bühnenvorhang. Leise erst singt er, bevor es dann gewaltig im Rund der Neuen Flora klingt: „Um zu leben, musst Du sterben.“
Friedrich Nietzsche. Stirb, und werde. Friedrich Nietzsche hat Richard Wagner geliebt. Jim Steinman wird bezeichnet als der Richard Wagner des Rock: Wohl jeder im Publikum ahnt bei diesem ersten Gesang des Grafen Krolock, das im Tanz der Vampire Großartiges sich zusammen fügt.
„Willst Du beten, bis Du grau und bitter bist?“ Graf Krolock lockt die junge Sarah mit einer Reise auf den Flügeln der Nacht. „Draußen ist Freiheit“, singt Sarah. Durch den verschneiten Wald, vorbei an den Wölfen, hinauf zum Sternenhimmel, in die Burg des Grafen Krolock.
Eine vollendete Szene: Vampire tanzen um Sarah herum. Der Rausch der Dunkelheit. Komm! Dahinter aus den Kehlen der Dorfbewohner der Choral Jesu Christi: Führe uns nicht in Versuchung.
Das Musical packt mich beim Hemdkragen, tauscht flugs wie ein Hütchenspieler die Realitäten. Nicht ich bin. Sarah ist. Ihre Sehnsucht nach den Sternen: „Gibt es ein Land, in dem alle Wunder möglich sind?“
„Draußen ist Freiheit“, dann noch einmal zum Finale. Nicht die Freiheit, die wir uns wünschen. Sondern die Freiheit, die ihren Preis hat. Und doch so schön, so wunderschön. Michelle Pfeiffer, wie ihr Gesicht am Ende von „Wolf“ die ganze Leinwand erfüllt. Die Nacht, sie ruft uns.

Hotelzimmer, klein wie Särge.

„Jeder Müller, vom ersten bis zum letzten seines Stammes, hat stets den Anschauungen seiner Zeit gehuldigt. Keiner von ihnen ist verantwortlich für seine Taten und Worte“, beschrieb Walter Mehring 1934 die Herrschaft der Matrix.
Das „Ballermann Nr. 6“ in Arenal hatte er dabei wohl nicht gerade vor Augen, wo der Zeitgeist auch dieses Jahr wieder unbescholtene Bürger in der Sonne brät.
Eher versuchte Walter Mehring wohl einen Frieden mit den Mitläufern der SA, die 1929 schon Posten bezogen vor seinen Theaterstücken. „An den Galgen!“ hetzte Goebbels.
Die Werke von Walter Mehring gehörten zu den ersten, die 1933 brannten. Walter Mehring selbst entkam dem Scheiterhaufen nur knapp.
Und er ahnte damals schon, dass sein Exil niemals enden würde.
Denn auch nach '45, im neu gegründeten Wirtschaftswunderland, war wenig Platz für spitze Federn wie Walter Mehring. „Ich bin kein vergessener, ich bin ein ungedruckter Autor“, resignierte er.
Das ist sie, die wahre Matrix. Keine Büttel, keine Knüppel. Nein, einer wie Walter Mehring, der findet einfach nicht mehr statt, darf als „schräger Vogel“ krähen, krähen, krähen, bis er tot vom Baum fällt.
Nur dass Walter Mehring nicht die Gnade gewährt wurde, vorher den Verstand verlieren zu dürfen: Wo bei Friedrich Nietzsche längst Schicht war, wurde Walter Mehring weiter von Hotel zu Hotel getrieben. Fast 50 Jahre lang.

Walter Mehring
*29.04.1896 +03.10.1981
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look at me!

Matrix.

Unheimlich, wie viele Menschen ihr Leben lang nicht hinaus kommen über das Schreiben von Urlaubspostkarten. Vielleicht reicht es der Welt tatsächlich zum Glück, wenn sie täglich ihre vier Stunden Glotze reingeschüttet bekommt. Die in die Hunderttausende gehende Gemeinschaft der Online-Gamer beweist mir, dass Menschen real mit einem tristen Viereck zufrieden sein können, wenn sie dafür virtuell Könige sein dürfen. Insofern ist "Matrix" für mich der visionärste Film des 21. Jahrhunderts. Und ich gäbe manches dafür, später der weiß gekleidete Architekt der Matrix zu sein. Und sei es in der Irrenanstalt. Wie Nietzsche. Ein Irrer, der alles weiß, der das Leben in seiner Tiefe durchmessen hat, bis es tiefer nicht mehr geht.

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