Dienstag, 2. Dezember 2008

Air.

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Am Leben sein, um zu lernen, wie man stirbt. Die Rischis im Himalaya vermögen das. Tempel, Hunderte von Jahren alt. Gebetsfahnen, wohin man auch schaut. Auf solcher Höhe scheint es einem leicht zu werden, den Körper zu verlassen.
Mir reicht bereits ein Kirchturm, um mich im Leben nicht mehr wieder zu erkennen. Wille und Gier, vereint im "Haben wollen", finden kein Ziel mehr. Fortwehen wie eine Feder könnte ich. All das Erarbeitete, es ist so leicht hinter sich zu bringen. Und man empfindet auch keine Reue darum. Was gewesen ist, kann so stehen bleiben. Vielleicht noch Reste von Furcht, natürlich. Aber wenn der Tod mich in dieser Höhe trifft, trifft er mich in Frieden.

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Katholik sein.

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Die Eltern knieten, die Tanten und Onkel, die Spielkameraden - also kniete auch ich. Meinen Glauben, ich habe ihn gefunden in den Augen anderer. Gäbe es nicht den Vater und die Mutter, Kirchen wären für mich leere Häuser. Weihnachten Hand in Hand zur Mitternachtsmesse. Nach der feierlichen Erstkommunion die erste Bibel. Weinrot. "Eine Luxusausgabe, hörst Du!"
Am Morgen meiner Firmung fahrplanmäßig der erste Flow. Aus Spielzeugpanzern wurden Friedenstauben. Ankunft im geistigen Wohlstand. Das Sakrament der Ehe noch verteidigt, als der Vater längst ausgezogen war.
Gottesbeweise geführt, Advocatus Diaboli gewesen, immer wieder Sämann... Mit den ersten Beerdigungen dann die Stille, und kein Weg mehr hinaus. Eingezogen ward ich in den Kreislauf des Lebens. Was einst stolz auf seinen Wert hin geprüft wurde, umschlang ich nun: "Jesus, gell?" Die Blindwütigkeit des Rosenkranzes.
Rom. Der Stellvertreter Christi auf Erden. Jahrtausende alt. Was bleibt mir mehr, als mich an das Ritual zu verschwenden? Katholik sein, für mich heißt das, Blutstropfen sein.

72,62 %...

...für den Mann mit der Mundharmonika. Der Jongleur mag besser gewesen sein. Aber dann hätte man die Sendung auch "Stars der Manege" nennen können.
Bisher war Franz Kafka mir ein Vorbild, wie ruhig er seinen nächtlichen Blutsturz erlebte. Nun spielt die Melodie viel zeitgemäßer: "Herr Doktor, mit Ihnen dauert ’s nicht mehr lange!" rief Kafkas Bedienerin beim Anblick des vielen Blutes. Das muss sich heute kaum einer mehr anhören. Jahrzehnte können wir nun vor uns hinhumpeln, einäugig und knapp bei Kasse. Neue Lieder für ein neues Sterben brauchen wir. Und der Mann mit der Mundharmonika hat das bisher schönste zur Aufführung gebracht, finde ich.
Wer weiß, vielleicht ist es mir ja tatsächlich nur gegeben, nach einer gefühlten Ewigkeit irgendwo ein paar Töne zu tun, damit mein Leben sich erfüllt hat.

Samstag, 29. November 2008

Tante Trude.

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Es war einmal ein Leben
Grausam, schön.
Gott hatte es mir gegeben.
Nun muss ich auch mal gehen.

Habe stets alles ertragen,
Ohne zu klagen,
Was Gott für mich hatte vorgesehn.
Das Rad des Lebens blieb nicht stehn.

Erlebte es wie auf einem Schiff,
Die Wellen trugen mich.
Bekam alles in den Griff.
Und dass mein Glaube fest und rein,
Die Dankbarkeit darf nicht vergessen sein.

Er schenkte mir ein frohes Leben
Mit seinem überreichen Segen.
War ich auch kein Geisteskind,
Wurde angenommen, und ich find

Die Liebe, die man mir schenkte,
Mein Dasein recht lenkte.
Schon von Kindesbeinen an
Wurde ich behütet und geborgen,
Trotz Trauer und Sorgen.

Jetzt geh ich von der schönen Erden
Mit meinen Altersbeschwerden.
Danke allen, die mir geholfen all die Jahr.
Mein Leben, es war!

Trude, 2008

Vater und Sohn.

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Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll’n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört Dir unser Leben ganz.

Dietrich Bonhoeffer

Last Train Home.

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Nachts ist der Hamburger Hauptbahnhof ein Erlebnis für sich. Wenn der Feierabendverkehr durch ist, und die Reisenden für sich stehen im Neonlicht des Bahnsteigs. Wo willst Du hin? blicken wir einander an.
Freiheit! daran denken wir dabei zuletzt. Hier kreuzen sich die zu lang gelebten Träume. Der Glaube, wir wären noch jung genug, hier wartet er auf seinen Anschluss. Welcher Zug auch abfährt, es wird der letzte sein.
Eine in ihre "besten Jahre" gekommene Frau fährt mit mir im Abteil. Begleitet wird sie von ihrem Rucksack und jenen kleinen Habseligkeiten, wie man sie bei "Aktenzeichen xy ungelöst" häufig im Besitz eines Opfers findet.
Draußen alles dunkel. Aber schlafen kann die Frau nicht. Stattdessen blättert sie in einem Buch über Marlon Brando, als wenn das jetzt noch wichtig wäre.
Tatsächlich fährt die Frau mit mir durch bis ans Meer. Viele Geschichten enden am Meer. Wo wir einst zu hoffen begannen, sterben wir auch.
Endstation. Die Frau schultert ihren Rucksack. Ein langer, leerer Bahnsteig vor uns. Wehe dem, der jetzt keine Heimat hat. Doch schon schälen sich zwei wackre Gestalten aus der Nacht. Mama breitet ihre Arme aus: "Huhu." Papa folgt mit angemessenem Lächeln.
Grau die beiden, klein. Nicht mehr oft wird die Nacht sie freigeben. Ihre Tochter wirkt denn auch wie entkernt und mit heißer Luft gefüllt. Freudig empfängt sie den Tisch, den das Schicksal noch einmal gedeckt hat für sie.
Zurück bleibt der Bahnsteig und die Nacht, die geduldige Nacht.

Sonntag, 23. November 2008

On the Road.

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"...denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und in der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen: Ahhh!"

Jack Kerouac

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Nimmerland.

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Jenes mit meiner Kindheit verwehte Gefühl der Unsterblichkeit, ich trauere sehr darum. Ein Peter Pan gewesen sein, dem das Himmelreich gehört. Sagen können, dass dieses Gestrüpp nun Batmans Höhle sei und jener Erdhügel Supermans "Festung der Einsamkeit". Die Kirchengemeinde und der Garten Eden, von dem Lehrer Quander uns unterrichtete, beides stand für mich überhaupt nicht in Frage. Oh, was konnte ich beten! So gesund und so kraftvoll, wie ein junger Wolf den Mond anheult.

Warum Sterben?

Wenn ich schlafe, wenn ich träume, lebe ich dann weniger, als wenn ich wache? Seit Jahren denke ich nach über die Möglichkeiten unseres Daseins. Schneeflocken etwa sind mit dem Mikroskop besehen mehr, als unser Auge jemals wahrnehmen wird. Keine Realität, hinter der sich nicht noch eine Realität verbirgt. Was im freien Fall zu sein scheint, ist so in Wirklichkeit sanft behütet.
Weder unsere Augen vermögen uns zu segnen, noch unsere Ohren, noch die Hand, die wir spüren. Für unsere Sinne gibt es einen Anfang und ein Ende, gibt es Wege und Wände. Das Leben an sich aber kennt keine Grenzen. Mag es sich auch wandeln, es endet niemals.
Jeder von uns nun bringt diese Unendlichkeit auf seine Weise zum Schwingen. Wie wenn wir mit dem Finger stilles Wasser berühren. Das ist es, was bleibt. Für immer.
Teneriffa

64 Felder, die die Welt bedeuten.

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"Nach und nach glänzt mein Name doch auf, und das ist auch das einzige, wofür ich lebe!" schrieb Hans Christian Andersen. "Ich trachte nach Ehre wie der Geizige nach dem Klang des Goldes: beides ist zwar leer; aber für etwas muss man sich in dieser Welt doch begeistern, sonst fällt man ganz zusammen und verfault!"
Da das Leben zurzeit für mich ein bißchen unübersichtlich geworden ist, möchte ich mich vorerst zurück ziehen auf die 64 Felder, auf denen das Leben einst für mich begann.
Weiß und Schwarz, wie Tag und Nacht. Wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, spielten wir regelmäßig eine Partie Schach. Dann der "Grandmaster" auf dem Commodore 64. Monate schrieb ich an einem eigenen Schachprogramm. "Omicron Basic" wurde mein Buch Genesis. Ein Nachdruck des Bilguer von 1839 schenkte mir schließlich jenes Gefühl für die Ewigkeit, welches Paul Morphy noch vertiefte, als seine Partien mich das Giuoco pianissimo der Italienischen Partie derart gut lehrten, dass ich Spieler von Regionalliganiveau zusammen opfern konnte.
Während meiner Zeit bei der Bundeswehr schlich das Schachspiel sich dann aus meinem Leben, obwohl ich auf Vereinsebene Pokalsieger und Vizemeister wurde. Aber der Markt für Schachcomputer brach zusammen, und ich verlor so einen großen Teil meines Hobbys.
Als ich an die Ostsee verzog, ging auch der letzte Bezug zur Schachwelt verloren. Anschließend beim Travemünder Open "im Geld" zu sein, das hatte für mich nur noch den Charakter eines Events.

Nun also der reumütige Versuch eines Weges zurück in die Schachszene. Wobei es der Menschheit im Schachspiel ja zum ersten Male überhaupt gelungen ist, Gott wirklich nahe zu sein. Die Fünfsteiner beherrscht selbst Gott nicht besser als wir. Mittels Quad Core quasi "Brute Force" hin zu Antworten auf letzte Fragen. Und wenn es mir fortan in der Schachwelt glückt, etwas Wahrheit zu finden, dann bin ich als Mensch vielleicht schon Zeichen genug gewesen. Lauter ins Dunkel fließende Kolonnen, die in ihrer Gesamtheit irgendwann empor reichen zum Architekten der Matrix.

Nächtliches Tuttlingen.

"Mit einemmal fiel mir auf, wie sehr dies alles im Zeichen der Vergangenheit stand, wie viele Tote da mitgeredet hatten, ja wie das Lebendigste von allem die Toten gewesen waren. Es war Hölderlin, in jenem Augenblick unter den Tuttlinger Giebelhäusern, es war Mörike, mit der schönen Lau, auch an Arnim und die Kronenwächter hatte ich mich hier oft erinnert gefühlt, es waren die Meister all der Altäre, der Chorstühle, der Grabplatten, der herrlichen Bauten. Und so wie auf dieser Reise waren immer und überall Tote um mich gewesen, vielmehr Unsterbliche. Und diese lang gestorbenen Menschen, deren Worte mir lebendig waren, deren Gedanken mich erzogen, deren Werke die nüchterne Welt schön und möglich machten - Waren das denn nun nicht alle auch besondere, kranke, leidende, schwierige Menschen gewesen, Schöpfer aus Not, nicht aus Glück, Baumeister aus Ekel gegen die Wirklichkeit, nicht aus Übereinstimmung mit ihr?"

Hermann Hesse.

Mein Großvater im Prag Kafkas.

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Sonntag, 18. Juni 2006

Frida Kahlo.

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„Die gebrochene Säule“, heißt das Werk von Frida Kahlo, das mir am meisten gefällt. Ein spätes Ergebnis jener Stahlstange, die sich bei einem Busunfall in das Becken der jungen Frida Kahlo bohrte. Ihr Leben lang leidet sie unter den Folgen.
Frida Kahlo war eines meiner Vorbilder, als die Lungenärztin allergisches Asthma bei mir diagnostizierte und entsprechende Fachliteratur, wohl aus Gründen der Haftung, schwarz malte, ach wie schnell Asthma sich verschlimmern könne…
Die Kunst von Frida Kahlo half mir, mich als Raupe zu erkennen, als Hülle, die einen Schmetterling in sich trägt: Meine Existenz ist unwichtig, ich bleibe eines Tages leer zurück, allein der Schmetterling zählt.
Vielleicht ist mein Schmetterling nur ein lausig erfolgloser Kriminalroman, ist aber die Grundlage für jemanden, der es richtig drauf hat. Wie ja auch das wohl eher mäßige Tennisspiel eines Peter Graf nicht vergebens war.
Und so lässt jeder veröffentlichte Text, jede Kurzgeschichte, jedes Gedicht mich unabhängiger werden von meinem Körper, verringert sich der Abstand zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich hätte sein können.
Möglich, dass ich mir in diesem Sinne schon bald in völliger Ruhe Kortisonspritzen setzen lasse. Weil ich dann lebe, was ich mir als Kind beim Hören von „Onkel Toms Hütte“ verinnerlichte: Mehr als töten könnt Ihr mich nicht.

Donnerstag, 15. Juni 2006

Leichter Laufen!

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Memory-Modus.

Wenn schon keinen neuen Schachcomputer, dann wenigstens etwas in alten Partien schwelgen, von denen viele auch Erinnerungen sind an meine damaligen Lebensumstände:
Die folgende Partie wurde gespielt in den stillen Tagen zwischen Weihnachten und Sylvester 1990. Damals schwor ich auf Anzug und Krawatte, und schrieb nur mit Füllfederhalter.
Hinter mir lag ein geniales Familientreffen, mit all meinen Brüdern, Cousinen und Cousins, vor mir der Wehrdienst.
Die Partie wurde gespielt zu einer Zeit, als man für einen Schachcomputer Fidelity Avantgarde mit Motorola 68040-Prozessor noch 20.000 DM verlangen konnte - und bekam.
Dagegen war mein Mephisto Roma II mit dem Motorola 68000 ein Schnäppchen, und eine verbesserte Version des Schachcomputer-Weltmeisters von 1987.

Schlesinger - Roma II, Turnierpartie, zwei Stunden Bedenkzeit für 40 Züge.

1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.Ld3 Sc6 5.c3 Sf6 6.Lf4 Lg4 7.Db3 Dd7 8.Sd2 e6 9.Sgf3 Lxf3 10.Sxf3 Sh5!? (Der Zug wirkt nicht sonderlich stark, aber er stammt von keinem Geringeren als Jose Raul Capablanca, Schachweltmeister von 1921 bis 1927.) 11.Se5 (Von dem amerikanischen Großmeister Walter Browne 1973 in die Praxis eingeführt.) 11...Dc7 12.Le3 Ld6 13.Dd1 (1990 wohl noch völliges Neuland. Laut meiner über zwei Millionen Partien fassenden Datenbank, kam diese Stellung erst 1994 ein zweites Mal vor. Mephisto spielt auch weiterhin weltmeisterlich.) 13...Sf6 14.f4 0-0 15.0-0 Se7?! (Ein Schritt ab vom richtigen Weg. Standartplan für Schwarz ist hier der so genannte Minoritätsangriff: Schwarz tauscht seine Bauern am Damenflügel, und attackiert den verbleibenden Bauern von Weiß mit allen Kräften.) 16.Sg4 Sxg4 17.Dxg4 (Die weiße Dame taucht gewaltig am Königsflügel auf.) 17...Tac8 18.Tae1 Sg6 19.Lc1! (Schützt den Damenflügel und bereitet die Türme vor zur Überführung auf die Angriffslinien g und h.) 19...f5 (Durchkreuzt den weißen Plan. Aber nun ist der Bauer e6 sehr schwach.) 20.De2 Tf6 21.g3 Sf8 22.Le3! (Da Schwarz am Königsflügel nahezu bewegungslos ist, bereitet Weiß seinen Aufmarsch am Damenflügel vor.) 22...Sd7 23.Tc1 Sb6 24.b3 La3 25.Tc2 Tg6 26.Kh1 Th6 27.Lc1 Le7 28.Lb2 Dd6 29.Te1 Tc7 30.a4! (Schwarz steht bei vollem Brett auf Verlust.) 30...Dc6 31.Lb5 Dd6 32.a5 Sd7 33.Ta1 Sb8 34.La3 Dd8 35.Lxe7 Dxe7 36.Te1 a6 37.La4 Da3 38.De5! (Welche Dame ist hier Königin?) 38...Tc8 39.c4 Df8 40.c5 (Hans Kmoch: Die Kunst der Bauernführung.) 40...Sc6 41.Lxc6 Txc6 42.Tb2 Dd8 43.b4 Tc8 44.Teb1 Dc7 45.Dxc7 Txc7 46.b5 Kf7 47.bxa6 bxa6 48.Tb7 (Die schwarze Stellung bricht zusammen.) 48...Txb7 49.Txb7+ Ke8 50.Txg7 Kd8 51.Ta7 Kc8 52.Txa6 (Der a-Bauer geht zur Dame, daher:) 1-0

Mittwoch, 14. Juni 2006

Für Julia.

In Deiner Hand zu sein, ganz tief,
Das ist wie die Krippe vor der Zeit,
Ist wie der Donner in Ewigkeit,
Ist wie die Macht, die mich ins Leben rief.

Dienstag, 13. Juni 2006

Tempeldienst.

Was soll ich denn machen? Seit ich Berufspendler bin, fährt meine Bahn nicht mehr alle fünf Minuten. So ergeben sich immer wieder Aufenthalte, die zu bewältigen sind.
Und immer wieder scheint solch ein Aufenthalt Sinn zu ergeben, immer wieder überkommen mich Ideen einer modernen Boheme, welche sich über schick in DVD-Schmuckkästchen verstautes Serienwerk ergeht…
Abgesehen davon, dass ich als Single lange Jahre überhaupt keinen Fernseher besaß, habe ich bisher nicht mal alle Folgen der ersten Staffel "Stromberg" geschafft, obwohl ich Stromberg absolut genial finde. Ganz zu Schweigen von all dem CSI-Material, von dem ich mir eingeredet hatte, ich bräuchte es für meine Schriftstellerei.
Aber zum Glotzen sollte es dieses Mal gar nichts sein. Ein Schachcomputer sollte es sein. Richtig schön aus Holz, wie ich ihn Ende der Achtziger besaß. Für laue Abende auf der Terrasse.
Erst im Kaufhaus vor der Vitrine erwachte ich: Keine 19 bin ich mehr, wo man mit seiner Freizeit noch nicht so haushalten muss. Kein alter Meister, der sein Lebenswerk vollbracht hat. Überhaupt, mich mal eben zwei, drei Stunden von meiner Ehefrau verabschieden, "Schach spielen"?
Plötzlich war da nur noch Ekel. Vor mir selbst, vor alledem, was um mich herum lichterte.
Glotzen, hören, daddeln - viel mehr rückt das Leben freiwillig nicht heraus. Ich aber will handeln, kreativ sein, will die Welt gestalten.
Das Leben und ich, wir werden es miteinander ausmachen. Vor dem Kaufhaus.

Samstag, 10. Juni 2006

Der trojanische Fußball.

Wenn manch Frau gegen Ende ihres Daseins nicht greinen würde, man habe sie um ihr Leben betrogen, wenn manch Mann während seiner „Midlife-Crisis“ nicht Frau und Kinder zum Teufel jagen würde, ich würde Fußball genial finden: Mit so wenig, so viele unterhalten zu können, das ist leicht erledigte Königsarbeit. Wie wenn wir unsere Kinder vor dem Fernseher parken.
Menschen, welche sich vor der Glotze um ihre Zukunft bringen, könnten mir eigentlich egal sein. Ich lebe mein Leben.
Andererseits, treffe ich im öffentlichen Nahverkehr auf Menschen, die mangels Zukunft wenig zu verlieren haben, fühle ich mich unangenehm berührt: Wo jemand mit der Waffe in der Hand nur gewinnen kann, wird niemals wirklich Frieden sein. Scheidungskriege, Nachbarschaftsgreul, Mobbingscharmützel… all das muss nicht sein, finde ich. Wie jeder Wohlstandsbürger, liebe ich den Frieden. Daher mein einsamer Ostermarsch für ein Leben voller Sinn.

Fußball kann ich mir nur vorstellen als Hintergrund der sozialen Landschaftspflege, wo wir zwar ab und an ein Blick zum Bildschirm werfen (auf Ecuador hatte ich einiges Geld gesetzt), grundsätzlich aber erscheinen wegen der Menschen vor dem Fernseher.
Mit Fußball als „Door Opener“, gelangen mir gestern auf der WM-Party denn auch einige schöne Gespräche: „Wenn Ihr durchschauen könnt die Saat der Zeit und sagen: dies Korn sprosst und jenes nicht, so sprecht zu mir, der nicht erfleht noch fürchtet Gunst oder Hass von Euch.“

Mittwoch, 7. Juni 2006

"Ist das nicht Mord?"

fragte ich in der Grundschule meinen Lehrer, einen ehemaligen Soldaten der Wehrmacht.
Nein, nein, im Krieg würde man ja für etwas kämpfen.
Abgesehen von einer gewissen Eingewöhnungszeit, kann ich es mir tatsächlich vorstellen, nach getanem Kriegshandwerk abends mit meinen Kameraden im Unterstand Skat zu spielen, ohne heimgesucht zu werden von Visionen aus den "Gespenster-Geschichten", wo Opfer ihren Gräbern entsteigen und furchtbare Rache nehmen. Zumal wir ja nicht mehr mit Bajonetten übereinander her müssen...
"Wir waren Helden!" und "Mörder!" wer hat mich programmiert?
Oft fühle ich mich wie "Truman Burbank", dem man eine panische Angst vor Wasser implantiert, damit er nicht übers Meer in die Freiheit flüchtet, sondern weiter vor Pappkulissen den Hampelmann gibt.
Natürlich weiß ich, was für ein Risiko es ist, "Format C:" zu tippen, um alle Fremdinhalte und Viren von der Platte zu bekommen: Statt jenseits von Gut und Böse, landete Friedrich Nietzsche in der Klapse.
Andererseits, frei nach Sophie Scholl, es sind schon so viele für den Zeitgeist gefallen, dass ruhig auch mal einer dagegen fallen kann.

Dienstag, 6. Juni 2006

Braungebrannt.

Ein Mann beobachtet seine Frau, wie sie vom Braten ein Stück abschneidet, bevor sie den Braten in den Ofen schiebt.
„Warum machst Du das?“
„Der Braten gelingt dann besser“, sagt die Frau. „Meine Mutter hat das immer so gemacht.“
„Stimmt“, kommentiert die Mutter aus dem Wohnzimmer, „schon meine Mutter hat deswegen immer ein Stück vom Braten abgeschnitten.“
Der Mann ruft die Großmutter seiner Frau an: „Der Braten gelingt so besser?“
„Wie kommst Du denn darauf?“ verwundert sich die Großmutter. „Unser Ofen war damals zu klein. Anders hätte der Braten nicht hinein gepasst.“
Kaum eine Handlung, die nicht ihr Gewohnheitsrecht kennt: irgendwann verweist die Handlung auf sich selbst. Wobei sie uns dann auffordert, den Grund für unser Handeln gefälligst irgendwo herbei zu suchen.
„Ich finde keine passende Begründung in mir“, gilt dabei nicht.
„Lies Zeitung, schau im Fernsehen nach!“

Wie nun verhält es sich, wenn wir uns braten auf dem Teutonengrill?
Die um ihre Gesundheit wissenden Assyrer kannten den Teutonengrill bereits, ebenso die Ägypter und die Griechen.
Allerdings ist es im Lichte des Hippokrates eher bei einem Art Damengrill geblieben: wenige Minuten Sonne täglich reichen völlig hin für unsere Knochen. Nicht einmal vom Prallsten muss sie sein, die Sonne.
Jenes klassische Wissen der Leibärzte blieb denn auch lange so populär, wie heute vielleicht das Verpflanzen von Frischzellen.
Die uns implantierte Matrix der „gesunden Bräune“ begründet sich schlicht in einer Schnapsidee:
Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Industrialisierung beschloss, den Arbeitern ein neues Fundament der Selbstachtung zu gewähren, wusste zuerst niemand etwas anzufangen mit der Zeit, welche nun plötzlich zur freien Verfügung stand. Ratlos ließen die Arbeiter sich in den Wirtshäusern vollaufen.
Eine straffe Architektur der Matrix war also auch hier notwendig. Gesellschaftsvereine entstanden, der Fußball wurde propagiert, ein neues Schönheitsideal installiert: 1922 ließ Coco Chanel sich braun brennen und präsentierte sich so in Cannes.
Besonders die Nationalsozialisten erkannten im Sonnenbad schnell die preiswerte Möglichkeit zur Wiederherstellung von Arbeits- und Wehrfähigkeit. Braun sein, das stand im Dritten Reich für Kraft, Stärke, Abhärtung.
Braune Soße, die in den 50ern dann ausgedünnt wurde mit Einflüssen des Wirtschaftswunders: Wir können es uns leisten!
Dabei ist es bis heute verblieben. Abgesehen von gelegentlicher Produktpflege in Richtung Fit- oder Wellness, planen die Architekten der Matrix scheinbar keine im Wesentlichen neuen Module für unser Sonnenbad.
So sind wir mündigen Bürger jedes Jahr aufs Neue gefordert, uns den Teutonengrill selbst vorzuheizen.

Montag, 5. Juni 2006

Sehnen Sie sich nach Freiheit und Abenteuer?

Dann fahren Sie die Route 66 ab, rät uns eine Zeitungsanzeige, oder schauen Sie im Kino „Easy Rider“.
Wenn man in den Werbeagenturen nicht selbst an eine Reise nach Amerika glauben würde wie an einen Gott, ich würde mich verarscht fühlen.
Die Zeitungsanzeige erinnert mich an einen ehemaligen Nachbarn. War er endlich voll, grölte er um drei Uhr in der Frühe: „Sail away… dream your dream… you can fly!“ Hockt mit einer Kiste Bier in seiner Hochhausbutze, dachte ich im Halbschlaf, und macht auf Große Freiheit. Toll.
So wie ein Christ das Kreuz fortwerfen kann, lacht Freiheit über die Krücken des „Lifestyle“. Freiheit steht nicht am Ende, Freiheit steht am Anfang.

Sonntag, 4. Juni 2006

Kein Frühstück!

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„Fingerfood“ ist etwas anderes als „Mahlzeit“, weiß ich jetzt. Obwohl ich zusätzlich einen Tisch voll Kuchen hatte - wären alle 18 eingeplanten Gäste tatsächlich erschienen, ich hätte bald auf peinlich leere Platten geschaut: Zwei Stücke Kuchen und etwas Sushi, mehr war am Ende nicht mehr.
Bei meinem nächsten Auftritt als „Gastgeber“ bin ich schlauer.

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Samstag, 3. Juni 2006

Happy Birthday?

Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mit zehn Jahren zum letzten Male meinen Geburtstag gefeiert.
Jetzt fühle ich mich wie Zarathustra im Getränkemarkt, will erst überhaupt kein Bier kaufen, weil ich selbst ja keinen Alkohol trinke. Als wäre Fasching, und ich würde Accessoires suchen für meine Kostümierung zum „Gastgeber“.
Entfernt man sich vom sozialen Dasein, erscheint vieles ziemlich surreal: Die Kinoleinwand schrumpft auf Kleinbildformat, Dolby Surround wird zu einer stumm zappelnden Klamotte.
Mitunter reichen so dreißig stille Minuten, um vollends abzurutschen von den Brettern, die unsere Welt bedeuten: „Eines Tages fragte ich mich, warum eigentlich?“
Daher vielleicht läuft in manchen Haushalten der Fernseher oder das Radio permanent im Hintergrund: Es darf nicht still werden!
In meiner Singlezeit war meine Wohnung stumm wie eine Wüste. Nur das Ticken einiger Wecker sollte mich mahnen, die mir geschenkte Frist zu nutzen.
Und wenn ich zurück blicke auf das bereits Gelebte, so empfinde ich mich zumindest nicht als bösen und faulen Knecht, der die ihm anvertrauten Talente in der Erde vergraben hat, weil er sich fürchtet… Prost, Schlesinger.

Donnerstag, 1. Juni 2006

Langweilig wird es nie?

Immer öfter komme ich auf meinen Wegen vorbei an „Lanstationen“: Netzwerke mit nach Megabit zählenden Standleitungen und einem „Backbone“, der sich so robust anfühlt wie das Rückgrat eines Sauriers. Obendrauf mitunter ein eigener „Battlefield 2 ranked Server“...
Tatsächlich scheinen die jungen Leute im Innern der Lanstationen einander zu kommandieren wie Platoons: „Dafür kannst du keine Panzerfaust einsetzen! Vorsicht, hinter dir!“
Von solch virtuellem Knallzeugs verstehe ich wenig. Ich weiß nur, dass 1982 auf dem Atari VCS bei „Asteroids“ der Zähler nach 99.999 Punkten wieder bei Null anfing. Ein Umstand, für den selbst mein kindliches Gemüt sich nicht recht begeistern konnte.
Mit wachsendem Verstand dann wurde es mir zunehmend rätselhafter, warum wir uns mit Pixelkronen begnügen, statt nach echtem Gold zu streben?
Die Zeit, die wir zum Trainieren unserer Fingerfertigkeiten nutzen, geht ja zwangsläufig anderswo von ab.
Hatte er in Andalusien schon Lanstationen vorgefunden, vielleicht wäre Columbus nie nach Amerika gelangt?
Gewiss eine Übertreibung, natürlich. Dennoch bin ich mir unsicher, ob in Zeiten von Hartz IV Lanstationen wirklich das sind, was unsere Jugend braucht?
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look at me!

Matrix.

Unheimlich, wie viele Menschen ihr Leben lang nicht hinaus kommen über das Schreiben von Urlaubspostkarten. Vielleicht reicht es der Welt tatsächlich zum Glück, wenn sie täglich ihre vier Stunden Glotze reingeschüttet bekommt. Die in die Hunderttausende gehende Gemeinschaft der Online-Gamer beweist mir, dass Menschen real mit einem tristen Viereck zufrieden sein können, wenn sie dafür virtuell Könige sein dürfen. Insofern ist "Matrix" für mich der visionärste Film des 21. Jahrhunderts. Und ich gäbe manches dafür, später der weiß gekleidete Architekt der Matrix zu sein. Und sei es in der Irrenanstalt. Wie Nietzsche. Ein Irrer, der alles weiß, der das Leben in seiner Tiefe durchmessen hat, bis es tiefer nicht mehr geht.

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